Die Ruhe vor dem Sturm

In das Jahr 2020, diese magische Zahl, hatten viele Menschen hohe Er-wartungen gesetzt, verbunden mit der Hoffnung auf eine endlich wieder besser werdende Welt. Klimawandel war das wichtigste Thema weltweit gleich zu Beginn des Jahres. Es muss endlich was passieren, hieß es in endlosen Debatten. Scheinbar hatte unsere Natur aber keine Geduld mehr mit uns und all dem fruchtlosen Gelaber. Auf Worte müssten endlich auch mal Taten folgen. Vielleicht hatte sie deshalb beschlossen, sich mit einer noch nie da gewesenen Katastrophe bemerkbar zu machen und diesmal so richtig Alarm zu schlagen. Als hätte sie die Nase endgültig voll von unserem phlegmatischen Rumgeeiere. Es war nicht mehr fünf vor zwölf, sondern es hatte bereits zwölf geschlagen. Eigentlich war es schon fünf nach zwölf. COVID-19 hat unser aller Leben seither fest im Griff. Die Weltuntergangsstimmung hat sich nur minimal gelichtet, und verhängte Reiseverbote und Ausgangssperren tragen ihr Übriges zur Depression, Verunsicherung und Verärgerung bei den Menschen bei.

 

Nicht nur Frühling und Sommer, sondern wahrscheinlich die gesamte Reisesaison mit dem herrlichen Indian Summer und dem schneereichen Winter wird in Kanada - wie in vielen anderen Ländern auch - in diesem Jahr daher sicher ganz anders aussehen als sonst. Bedeutet das aber auch gleichzeitig schlechter? Ich glaube nicht.

 

Es gibt nicht nur Verlierer in diesen außergewöhnlichen Zeiten. Großer Gewinner 2020 wird zunächst einmal eindeutig unsere Natur sein! Und es kommt noch besser: unmittelbar danach werden auch wir wieder auf der Gewinnerseite stehen. Mit dem Reiseverbot bleibt der Tourismus vorerst lahm gelegt. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass sowohl Fauna als auch Flora erstmalig seit ewigen Zeiten endlich mal wieder durchatmen können. Wortwörtlich, denn wenn die unzähligen Wohn-mobile und damit auch die Reisenden weg bleiben, werden auch keine (oder zumindest wesentlich weniger) Abgase in die gute Luft geblasen. Verschmutzung durch achtlos in der Natur liegen gelassene oder weggeworfene Abfälle wird ebenfalls ausbleiben. Plastikgeschirr und -besteck wird keine Abnehmer mehr finden, wenn Campen in den Nationalparks verboten ist. Und wer weiß, welche positiven Neben-effekte Covid-19 ansonsten noch haben wird? Erholen sich unter Um-ständen ganze Landstriche wieder, weil weder Pflanzen niedergetrampelt, noch ansässige Tiere verschreckt werden? Seen und Meere werden sau-berer, weil keine Motorboote, Schiffe und Luxusdampfer mehr auf ihnen herumsausen? Da könnte es durchaus sein, dass man bald wieder Schnappschüsse mit wilden Tieren wie dem nachfolgenden machen kann.

 

Ganz besonders freue ich mich für die Meere und insbesondere die Wale. Seit Jahren sind ihre Zahlen im kritischen Bereich, wobei die Southern resident killer whales sogar vom Aussterben bedroht sind. Gerade mal 75 dieser faszinierenden Tiere gibt es momentan noch. Mit dem Luxus-dampfer-Schwimmverbot und abgesagten Walsichtungs-Touristenkuttern können die sich nun endlich mal wieder in Ruhe durch den Atlantik und Pazifik bewegen. Ganz ohne Lärmbelästigung. Das wird hoffentlich dazu beitragen, dass sich die gesamte resident killer whale population entlang der Küste von British Columbia stabilisiert, im Idealfall vielleicht sogar wieder erhöht. Das wäre traumhaft! Überhaupt werden auch alle anderen Meeresbewohner inklusive Algen, deren Existenz so essenziell aber leider weitgehend unbeachtet ist, enorm von vermindertem Schiffsver-kehr profitieren. Das Wasser dürfte so klar wie lange nicht mehr werden. Venedig hat uns da schon mal einen Vorgeschmack geliefert, wie das tatsächlich aussehen kann.

 

Da lohnt sich so ein Reiseverbot mal richtig, oder?! Vergessen wir dabei nicht, dass das sowieso nur vorübergehend ist. Wir alle haben einen Einfluss darauf, wie lange es dauert. Und das sind wirklich gute Nach-richten! Je strikter wir uns daran halten, desto schneller wird es vorüber sein. Somit kann jeder von uns sein Scherflein beitragen, nicht nur die schlauen und fähigen Köpfe überall auf der Welt, die mit Hochdruck an Lösungen der COVID-19 Situation arbeiten. In der Vergangenheit haben wir solche Krisen auch überstanden. Daran sollten wir uns in all der Schwarzmalerei ab und zu erinnern. Und mal ehrlich, ist es denn wirklich so schlimm, wenn wir alle in diesem Jahr ausnahmsweise nicht verreisen und stattdessen in unserem Urlaub zu Hause im Garten bleiben und dort den nächsten Urlaub sorgfältig planen, Reiseführer und –magazine lesen und uns im Vorfeld mal so richtig intensiv über unser Reiseziel informieren? Was, wenn durch unser diszipliniertes temporäres Fern-bleiben die Seen und Wälder nicht nur in den Rocky Mountains noch schöner werden? Alle Reiseziele dieser Welt werden von der Krise profi-tieren, davon bin ich überzeugt.

 

Wenn ich 2021 eine noch schönere, gesündere Natur bewundern und ge-nießen darf, nehme ich das temporäre Reiseverbot sehr gerne auf mich. Vorerst gönne ich der Natur ihre kurze Verschnaufpause und träume lieber noch ein bisschen von meinem nächsten Ausflug in den Rocky Mountain Nationalpark mit schneebedeckten Bergen, türkisfarben glitzernden Seen und tiefgrünen Wäldern. Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude.