Tapfere Neue Welt oder: das Jahr 2020 - die perfekte Vision

 

Auch Monate nach dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie halten uns nicht enden wollende Schreckensnachrichten auf Trab. Gerade als man dachte, es könne gar nicht mehr schlimmer kommen, geriet die Welt noch mehr aus den Fugen. Bei uns in Kanada gab es kaum mehr eine Ver-schnaufpause.

 

Am 18. und 19. April lief ein 51-jähriger Einzeltäter als Polizist verklei-det in Nova Scotia Amok, setzte Häuser in Brand und richtete wahllos Menschen hin, bevor er nach 13 Stunden von der RCMP gestellt und er-schossen wurde. 22 Menschen tötete er, 13 davon richtete er mit seiner Waffe hin und 9 verbrannten in ihren Häusern. Der schlimmste Amoklauf in der Geschichte des Landes.

 

Dann überflutet unser Nachbar, die USA, uns täglich mit Horror-Wahn-sinn aus dem Weißen Haus, der ebenso gut aus der geschlossenen Abtei-lung einer Psychiatrie kommen könnte. Man erkennt da nicht wirklich einen Unterschied. Und das nun schon seit gut 3 Jahren. Da bleibt einem auch schon mal der Bissen im Hals stecken, wenn man beim Abendessen den narzisstisch-neurotischen Donald in den Nachrichten tönen hört, dass er eine Mauer baut und man sieht, wie er Kinder von ihren Eltern reißen und in Käfige sperren lässt. Das ist zwar schon eine Weile her, aber ver-gessen kann ich die Bilder nicht.

 

Wesentlich frischer sind da die Statistiken mit den aktuellen COVID-19 Toten in den USA: Mitte Juni waren es 116,700 und damit mehr Tote als im 1. Weltkrieg. In Kanada sieht es da doch wesentlich besser aus. Noch. Ich bete, dass unser Justin die Grenzen zu den unbelehrbaren südlichen Nachbarn weiterhin geschlossen hält. Und dann die Bilder von Protestanten, die weltweit inmitten einer Pandemie zu Tausenden auf die Straßen gehen. Über Nacht war es nach der brutalen Hinrichtung von George Floyd (oder wie nennt man das, wenn ein Polizist mit seinem vollen Körpergewicht 8 Minuten und 46 Sekunden auf dem Hals eines Menschen kniet während seine drei Kollegen daneben stehen und tatenlos zusehen?) zu Massenprotesten gekommen. Angst und Bange wird einem da angesichts des systemischen Rassismus, der nicht nur in den USA zu Hause ist. Black Lives Matter heißt es jetzt überall. Wirklich? In welcher Welt leben wir denn, dass man allen Ern-stes darauf aufmerksam gemacht werden muss, dass auch das Leben eines Menschen mit einer anderen Hautfarbe als weiß zählt? Ekel-erregend finde ich das - oder wie mein lieber Chef, den ich gerade in diesen Zeiten wieder einmal schmerzlichst vermisse, zu sagen pflegte: „Ich kann gar nicht so viel essen wie ich kotzen möchte!“. Ich könnte jetzt noch mehr schlechte Nachrichten aufzählen, die mich in den letzten Wochen zutiefst erschüttert und mir schlaflose Nächte bereitet haben, aber es geht ja darum, gerade in dieser irrsinnigen Zeit optimistisch zu bleiben, irgendwo Halt zu finden und nicht in ein depressives Wachkoma zu fallen. Also, los geht’s:

 

Ich habe mir vorgenommen, die Jahreszahl 2020 zu meinem Jahresmotto zu machen. Wie das geht? Ganz einfach. 20/20 bedeutet beim Augenarzt oder -optiker, dass man eine perfekte Sehstärke hat. Auf Englisch heißt das dann perfect vision. Wenn ich das wiederum wörtlich zurück-übersetze, wird daraus „die perfekte Vision“, denn vision heißt im Eng-lischen nicht nur „Sehstärke“ sondern eben auch „Vision“. Keine Sorge, in meine „echten“ Übersetzungen würde sich ein solch kapitaler Fehler nicht einschleichen, da bin ich professionell – das ist nur ein kreatives Wortspiel.

 

Im Jahr 2020 sollten wir eine perfekte Vision davon haben, wie eine Welt, in der wir alle friedlich und respektvoll miteinander leben wollen, in der Zukunft aussehen soll. Tapfer müssen wir vorangehen. Am Ende winkt eine neue, bessere Welt – die alte ist ja nun wirklich suboptimal.

 

„Aber was kann ich denn schon großartig dafür tun?“, mögen Sie jetzt vielleicht einwenden. Fangen wir doch mal damit an, darüber nach-zudenken, wie sehr wir uns in den letzten Wochen und Monaten nach menschlichem Kontakt gesehnt haben. Was für ein Jammern und Klagen über die „Freiheitsberaubung“ und dass man sich weder sehen, noch um-armen oder gesellig zusammensitzen durfte. Das social distancing wurde dann schnell umbenannt in physical distancing, damit uns das alles nicht ganz so schwer auf die Psyche schlägt. Spricht das nicht Bände, wie sozial der Mensch in Wirklichkeit ist? Wir brauchen die Nähe zueinander, weil wir soziale Wesen sind und keiner ohne den Anderen überleben kann. Wir würden jämmerlich verkümmern und zu kompletten Emotions-krüppeln mutieren ohne unsere sozialen Kontakte. Wie schön ist es, wenn man Familie, Freunde und Nachbarn hat, mit denen man reden kann. Wie geborgen fühlt man sich, wenn man weiß, da ist jemand, der sich um einen sorgt.

 

In einem Einwanderungsland wie Kanada ist man da Gott sei Dank eher farbenblind, wobei auch hier der systemische Rassismus nicht wegzu-leugnen ist. Aber ein paar minderbemittelte Pseudo-Neandertaler, die sich für was Besseres halten, gibt es ja leider überall auf der Welt. Fangen wir doch einfach mal wieder an, uns etwas mehr um die Menschen zu küm-mern, mit denen wir täglich zu tun haben. Ein freundlicher Plausch mit dem Nachbarn, der über ein lieblos dahin geschleuderte „Hallo“ hinaus-geht, oder mal ein spontaner Anruf bei Freunden oder Familie machen den Tag um ein Vielfaches schöner. Für beide Seiten. Und was man dabei alles Interessantes erfährt… Sie werden staunen!

 

Von Kindern können wir da extrem viel lernen – die sehen nämlich gar nicht, wenn ihre Freunde eine andere Hautfarbe haben. Wen sie mögen, den mögen sie. Wer „blöd“ ist und sich daneben benimmt, der bekommt zu hören: „Du bist nicht mehr mein Freund“, aber mit der Hautfarbe hängt das nie zusammen. So einfach ist das.

 

Und so langsam dämmert mir auch, was Jesus gemeint hat, als er sagte: „Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.“ Nachdem wir in unserer Gesellschaft das Altern sowieso mit aller Macht zu ver-hindern suchen, sollte das „Werden wie die Kinder“ doch ein echter Klacks für uns sein, oder? Dann können wir im Idealfall sogar den Him-mel auf Erden erleben. Na, wenn das keine guten Aussichten für die Zu-kunft sind, dann weiß ich auch nicht…